Soziologie
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Einleitungstext  ---- Christoph
THESEN


RUDOLF GOLDSCHEID

Ich glaube aus allen meinen Darlegungen geht mit wünschenswertester Deutlichkeit hervor (...), die Soziologie möge doch nicht länger wie bisher obdachlos bleiben. (Goldscheid 1908: 242)

Ich glaube wirklich, man kann sagen, wenn es keine Soziologie gäbe, sie müßte erfunden werden und sie ist sicherlich auch erfunden worden, weil sie eine Notwendigkeit war. (ebd.: 243)

Der Aufsatz „Soziologie und Geschichtswissenschaft“ ist 1908 in der deutschen Vierteljahresschrift Annalen der Naturphilosophie", die von Wilhelm Ostwald herausgegeben wurde, erschienen. Wie der Titel des Aufsatzes bereits anklingen lässt, unternimmt Goldscheid den Versuch, die Soziologie als Wissenschaftsdisziplin in Verbindung mit anderen Disziplinen, insbesondere der Geschichtswissenschaft, zu setzen und ihre eigentümlichen Charakteristika herauszuarbeiten. Er legt dar, was er unter Soziologie als Wissenschaft versteht, welche Aufgabengebiete sie hat und welche Bedeutung ihr zukommt.

Goldscheid beginnt seinen Aufsatz mit den Worten, dass der Geschichte der Rang einer Wissenschaft abgesprochen und ihr vorgeworfen wird, dass sie nicht von der Auffindung von Gesetzen ausgeht, sondern sich mit der Darstellung einmaliger Ereignisse begnüge (vgl. Goldscheid 1908: 230). Goldscheid teilt diese Kritik nicht, da jede Heraushebung eines einzelnen Erscheinungsgebietes zu einer Sonderwissenschaft ein Willkürakt sei, „der in dem einen Fall erkenntnispraktisch oder notwendig ist, in dem anderen Falle nicht. Die Geschichte macht hier ebenso wenig die Ausnahme wie die Soziologie." (ebd.: 229)
Während er die Geschichtswissenschaften als eine Ereigniswissenschaft bezeichnet, die mit der Lehre von dem Geschehen und dem Nacheinander des Nebeneinander zu tun hat, sei die Soziologie eine Kausalitätswissenschaft, die nach Gesetzen sucht (vgl. ebd.: 230). Goldscheid zufolge haben die Gesetzeswissenschaften ihr Fundament in den Ereigniswissenschaften. Die beiden Disziplinen seien aufeinander angewiesen, und er erachtet sie jeweils als gegenseitige, unentbehrliche Stütze der anderen. Die Geschichte liefere das Induktionsmaterial für die Soziologie, indem die Historikerin, der Historiker Bestimmungsstücke, quellenmäßige Aufzeichnungen oder mündliche Überlieferungen sammelt und eine kontinuierliche Reihe konstruiert. Die Aufgabe der Soziologie bestehe darin, aus diesem zufälligen Wissen Ordnung und ein einheitliches, widerspruchsfreies System herbeizuführen (vgl. ebd: 232f.). Während die Geschichte die Lehre von den historischen Wirklichkeiten sei, sei die Soziologie die Lehre von den sozialen Möglichkeiten; wohingegen die Geschichte der Längsschnitt sei, stelle die Soziologie den Querschnitt dar (vgl. ebd.: 243).

Als eine Möglichkeit, die Soziologie zu definieren, schlägt er vor: „Die Soziologie ist die Lehre von den sozialen Zusammenhängen, die Lehre von den typischen Sukzessionen im Geschehen. Ihre Aufgabe ist Studium der Entstehung und Entwicklung der Gesellschaft oder, richtiger gesagt, des Gesellschaftlichen. Durch tiefstes Eindringen in die Struktur der sozialen Gebilde soll sie dazu zu gelangen suchen, Theorie der sozialen Erscheinungen zu sein. Sie hat sich auszusprechen über das Verhältnis Staat und Gesellschaft, hat zu zeigen, in welchen Punkten Staat und Gesellschaft zusammenfallen, in welchen sie auseinandergehen und aus diesen Differenzen und Divergenzen die entsprechenden soziologischen, sozialökonomischen und staatswissenschaftlichen Konsequenzen zu ziehen." (ebd: 231) Goldscheid beschreibt die Soziologie als zusammenfassende und vereinheitlichende Oberwissenschaft der Sozialwissenschaften und vergleicht sie mit der Biologie, welche die zusammenfassende Oberwissenschaft der organischen Naturwissenschaft sei. Sie habe ein enges Verhältnis zur Sozialpolitik, die er als angewandte Soziologie bezeichnet. (vgl. ebd., S.231)

Der Soziologie wurde vorgeworfen, dass sie keine Wissenschaft sei, da man ihr Verschwommenheit, Verschiedenheit der Anschauungen der einzelnen Vertreterinnen und Vertreter sowie einen Mangel einer eindeutigen Definition unterstellte. Dem hält Goldscheid entgegen, dass dieser Mangel bei allen zusammenfassenden Grundwissenschaften wie der Philosophie, Biologie, Anthropologie und Geschichte zu beobachten sei und es ungerechtfertigt ist, ihr deshalb den Rang einer Wissenschaft abzusprechen. Er betont darum, dass die Soziologie viel mehr als eine Existenzberechtigung habe, es müsse von Existenznotwendigkeit gesprochen werden: „Ich glaube wirklich, man kann sagen, wenn es keine Soziologie gäbe, sie müßte erfunden werden und sie ist sicherlich auch erfunden worden, weil sie eine Notwendigkeit war." (ebd.: 243) Neben der Geschichte sei die Soziologie eine zweite Universalwissenschaft mit der Begründung, dass sie wie jede große Wissenschaft zu den letzten Problemen vordringe. (ebd.: 236ff)
Ein erheblicher Unterschied zwischen Soziologie und Philosophie bestünde darin, dass letztere viel abstraktere und wesentlich allgemeinere Aufgaben als die Soziologie habe. Ihre Aufgabe sei es nicht, die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften zu verarbeiten, sondern die Voraussetzungen zu prüfen, auf denen sie aufgebaut sind und die Methoden auf ihre wissenschaftliche Zulässigkeit zu untersuchen. Demnach bezeichnet Goldscheid die Philosophie als Voraussetzungs-, Methoden- und Weltanschauungslehre. (vgl. ebd.: 241f)
Das meiste dessen, was das Gebiet der Soziologie ausmacht, würde in der Nationalökonomie behandelt, so die Kritik Goldscheids. Zweifellos sollte es so sein, dass die Nationalökonomie ein Zweig der Soziologie sein müsste und nicht umgekehrt. Die Wirtschaft bedeutet eine Voraussetzung für das Wohl der Gesellschaft, wobei es das Wesen der Soziologie ist, alle Voraussetzungen des Gedeihens der Gesellschaft festzustellen, zu analysieren und synthetisch zusammenzufassen (vgl. ebd.: 245).

Für das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichte lautet das Fazit Goldscheids, dass man die Geschichte ebenso wenig in Soziologie auflösen darf, wie etwa die Soziologie in Geschichte. Dennoch muss die Historikerin, der Historiker soziologisch orientiert sein (vgl. ebd.: 246). Er kritisiert die historistische Geschichtsauffassung Leopold von Rankes (vgl. ebd.: 249), von der er meint, dass die Soziologie der Geschichte unterstützend als „Kontrollapparat“ beistehen könne: „Es ist ein Problem der Soziologie zu untersuchen, warum die Kulturaufgaben neben dem Machtkampf zu allen Zeiten eine so untergeordnete Rolle gespielt haben (...).“ (ebd.: 24)
Eine soziologische Geschichtsauffassung würde zu einer aktivistischen Weltbetrachtung führen und damit die Geschichte zu einer großen Lehrmeisterin machen. Und damit beendet Goldscheid seinen Text mit einem Appell: „Denn wahrlich, die Geschichte darf nicht nur die Flamme des Weltgerichts bedeuten. Sie hat vielmehr vor allem als hellstrahlende Fackel unserem Fortschrittswillen voranzuleuchten!" (ebd.: 250)

Nach dem Tod Goldscheids erschien in den Kölner Vierteljahresheften für Soziologie" (5.Jahrgang, 1931/32) ein Nachruf von Ferdinand Tönnies, der den Verdienst Goldscheids zur Entwicklung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie würdigt. Für die Entstehungsgeschichte der Soziologie ist sein Text somit aus mehreren Gründen interessant. Erstens ist der Text in einem Kontext entstanden, in dem die Soziologie Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum im Entstehen begriffen war und daher auch Goldscheids Text als eine Art von Einordnungsversuch der Disziplin gelesen werden könnte. Zweitens hat sich Goldscheid als Privatgelehrter in unterschiedlichen, den Wissenschaften nahestehenden Feldern bewegt, jedoch war er nie ganz Teil des universitären Systems. Dass der Text aus der Perspektive eines nicht ganz klar einordenbaren, vielseitig interessierten Zeitgenossen geschrieben ist, wirft folgende Fragen auf: a) Inwiefern ist die untypische Biographie Goldscheids dafür ausschlaggebend, dass beispielsweise vorliegender Text nicht in den Kanon der soziologischen Klassiker aufgenommen wurde? b) Inwiefern und in welchen Punkten unterscheidet sich seine Perspektive auf die Soziologie von jenen Personen, die akademisch etabliert waren?



Literatur