Marienthal
Arbeit - Paul Lazarsfeld - Marie Jahoda - Psychologisches Institut
Archiv für Geschichte der Soziologie in Österreich
Bilder
„In
einer noch heute in der Arbeitslosenforschung immer wieder zitierten
Studie sind Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933) den Folgen von
Arbeitslosigkeit in einem kleinen österreichischen Industriedorf zur
Zeit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre nachgegangen. In einer
schöpferischen Verknüpfung von quantitativen (z.B. Messung der
Ganggeschwindigkeit, Einkommensstatistiken) und qualitativen Methoden
(z.B. Interviews, Haushaltsbücher, Tagebuchaufzeichnungen, Aufsätze von
Jugendlichen über ihre Zukunftsvorstellungen, Analyse von Akten, usw.)
und historischem Material haben sie mit der Leitformel (vgl. Jahoda
1995) einer “müden Gesellschaft” eine verdichtete Charakterisierung des
Lebensgefühls und der alltäglichen Handlungsabläufe in einer von
Arbeitslosigkeit betroffenen Kommune herausgearbeitet. Gleichzeitig
konnten sie unterschiedliche individuelle ,Haltungstypen` als Reaktion
auf Arbeitslosigkeit identifizieren, so die ,Ungebrochenen`, die
,Resignierten`, die ,Verzweifelten`, die ,Apathischen` – ein Ergebnis,
das sich auch in der heutigen Forschung als nützliche Heuristik
erweist." (Flick 2004: 16)
Marienthaler Arbeiter an der Feilbachbrücke, Hauptstraße. Foto von Hans Zeisel 1931.
Abfotografiert in der Ausstellung in Marienthal, 2015.
Marienthal, das ist der
Name einer südlich von Wien in der Marktgemeinde Gramatneudsiedl
gelegenen ehemaligen Fabrik und Arbeiterkolonie. Die erste Textilfabrik
eröffnete 1820, es folten Pleiten und weitere Fabriksgründungen sowie
die Errichtung von Arbeiterwohnungen bzw. -siedlungen, eines Gasthauses
mit
Tanz- und Theatersaal, eines Spitals sowie eines
Montessori-Kindergartens. Der höchste Beschäftigungsstand war im
Jahr 1929 zu verzeichnen; 1.200 Arbeiterinnen und Arbeiter sowie 90
Beamte
(Angestellte) arbeiteten in der Textilfabrik. Am 12. Februar 1939 wurde
die Textilfabrik vor allem aufgrund der Auswirkungen der
Weltwirtschaftskrise geschlossen.
Die Marienthal-Studie geht
auf
eine Anregung Otto Bauers, von 1918 bis 1934 stellvertretender
Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP),
zurück, der auf die öffentliche Debatte in
der Sozialdemokratischen Partei über die Auswirkungen langandauernder
Arbeitslosigkeit hinwies. Es galt zu untersuchen, ob sie bei den
Betroffenen zu Resignation oder etwa zu einer sozialistischen
Revolution führen würde (vgl. Kurz 2014: 106). Zudem soll es auch Otto
Bauer gewesen sein, der den Erhebungsort, Marienthal bei Gramatneusiedl
an der südlichen Wiener Stadtgrenze vorgeschlagen habe (vgl.
Fleck/Müller 1998: 269).
Die 1931 bis 1932 durchgeführte
Studie über die „Arbeitslosen von Marienthal“ stellt heute die
bekannteste Studie mit Beteiligung Paul Lazarsfelds und Marie Jahodas
zumindest im deutschsprachigen Raum dar. Verfasst wurde sie zum
Großteil von Hans Zeisel und vor allem von Marie Jahoda, wobei Lotte
Schenk-Danzinger den Hauptteil der Feldforschung leistete (vgl. Jahoda
et al. 2009: 30f.). Nichtsdestoweniger ist aber bekannt, dass sich
Lazarsfeld als Hauptleiter des Projektes öfter mit Jahoda und Zeisel
absprach und auch wesentlichen Anteil an der Planung der Feldforschung
und der Entwicklung der Forschungsstrategie hatte (ebd.: 11ff). Zu
dieser Herangehensweise verfasste er 1934 in Amerika einen Aufsatz, in
dem er klar machte, dass es sein Ziel war, „einen Gegenstand möglichst
vollständig darzustellen“ (Lazarsfeld 2007: 264). Ein genauerer
Blick auf die Marienthal-Studie macht die für die Forschungsstelle
charakteristische Kombination von Bühler´scher Psychologie, empirischen
Forschungsansatz und strenger Methodik im Umfeld einer offenen,
anwendungsorientierten und politischen Wiener Soziologie deutlich.
Die Marienthaler Forschungsanweisung
Lazarsfeld begann seine 1934
verfasste Reflexion über die in Marienthal angewandte
Forschungsstrategie sehr allgemein, indem er betont, dass es
entscheidend sei, den Gegenstand aus zahlreichen Richtungen zu
betrachten. Er spricht hier auch von „heuristischen Achsen“, nach denen
der Gegenstand betrachtet werden müsse (Lazarsfeld 2007: 265). Damit
sind eine Reihe von Regeln gemeint, die etwa davon ausgehen, dass eine
gute Soziographie sowohl subjektive als auch objektive oder gegenwärtig
und vergangene Daten etc. beinhalten muss. Die Endaufgabe des
Soziographen ist es schlussendlich, eine Matrixformel/Leitformel zu
erstellen - im Falle Marienthal etwa „Resignation“. Eine Matrixformel
verweist dabei immer auf das Handeln, sie ist dazu da, um bei den
vielen Einzeldaten auf ein pragmatisches Ergebnis kommen zu können -
wobei Lazarsfeld hier bewusst auf die Kinderpsychologie Karl Bühlers
verweist (ebd.: 278f). In der Marienthal-Studie wurde diese
Forschungsstrategie aber nur zum Teil angewandt. Wie die „Anweisung für
Marienthal“ aus dem Jahr 1931 beweist, waren bereits vor der
Feldforschung klare Vorstellungen gegeben, wie die Matrixformel
aussehen werde. Unter dem Punkt „Empfinden, Verhältnisse“ steht hier
etwa: „(Verzweifelt, resigniert, stumpf, abgefunden, zufrieden,
hoffnungsvoll…)“ (Lazarsfeld/Jahoda 1931: 1f.) Die späteren Kategorien
„ungebrochen, resigniert, verzweifelt, apathisch“ (Jahoda et al. 2009:
96) zeichnen sich also bereits deutlich ab. Es stimmt also
möglicherweise, dass die „Wahl der Matrixformel [in Marienthal] völlig
am Schluß der ganzen Erhebungsarbeit“ stand. (Lazarsfeld 2007: 280) Die
Auswahlmöglichkeiten waren aber bereits beinahe vollständig vor der
eigentlichen empirischen Arbeit festgelegt. Hier wird deutlich, wie
Lazarsfeld versucht, die Erfahrungen der Forschungspraxis später in die
Reflexion und Spezifikation der Methodologie hineinzutragen und bereit
ist, sie, wenn nötig, dafür auch etwas zu glätten.