Marie Jahoda (1907, Wien - 2001, Keymer)
Charlotte und Karl Bühler - Paul Lazarsfeld - Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle - Marienthal - Arbeit
Marie Jahoda wurde am 26. Januar
1907 in Wien als drittes von vier Kindern in eine bürgerlich-liberale
jüdische Familie der Wiener Mittelschicht geboren. Während ihrer
Schulzeit gehörte sie als bekennende Sozialistin der „Vereinigung
sozialistischer Mittelschüler“ an und trat auf eigenen Wunsch aus der
Israelitischen Kultusgemeinde aus (vgl. Jahoda 1997: 30).
Im Jahre 1926 nahm sie am
Pädagogischen Institut der Stadt Wien eine Ausbildung zur
Volksschullehrerin auf und studierte parallel an der Universität Wien
in den Fächern Psychologie und Philosophie bei Charlotte und Karl Bühler; bei letzterem wurde sie im Jahre 1932 zur Doktorin der Philosophie promoviert.
In der „Vereinigung sozialistischer Mittelschüler“ lernte sie ihren späteren Mann Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel kennen (vgl. ebd. 30). Später, während
ihrer Tätigkeit als politische Aktivistin bei der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs“ (SDAPÖ), pflegte Marie
Jahoda engen Kontakt mit dem damaligen Parteivorsitzenden Otto
Bauer, der ihr als einer der führenden Theoretiker der
sozialdemokratischen Bewegung des 20. Jahrhunderts den Austromarxismus näher brachte.
Marie Jahoda, August 1937
© Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Nachlass Marie Jahoda
1927 heiratete sie Paul F. Lazarsfeld, rund drei Jahre später kam ihre
gemeinsame Tochter Lotte zur Welt. Zu dieser Zeit war sie bei der SDAPÖ
parteipolitisch tätig und arbeitete bei der „Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“, die als Projektträger der Marienthal-Studie fungierte, in der die Folgen von Arbeitslosigkeit untersucht wurden und durch die Jahoda Weltruhm erlangte.
Mit dem Verbot der SDAPÖ durch das
Austrofaschistische Regime begann für sie die sozialdemokratische
Untergrundarbeit bei den „Revolutionären Sozialisten Österreichs“
(RSÖ). Im Jahre 1936 fand eine Hausdurchsuchung im Büro der
Forschungsstelle statt, welches zu jener Zeit als Poststelle für die
illegale RSÖ fungierte. Jahoda wurde schließlich zu drei Monaten Kerker
verurteilt, zwei Wochen später allerdings wieder entlassen unter der
Bedingung, Österreich umgehend zu verlassen (ebd. 59).
1937 emigrierte sie nach
Großbritannien, wo sie vom Geheimdienst Arbeit als Leiterin des
österreichischen Rundfunksenders „Radio Rotes Wien“ erhielt. Rund acht
Jahre später zog sie in die USA und begann ihre universitäre Karriere
mit der Berufung zur Professorin für Sozialpsychologie an der New York
University. Wie zahlreiche andere jüdische
Sozialwissenschaftlerinnen und – wissenschaftler im Exil war sie bei
Max Horkheimer in der Forschungsabteilung des „American Jewish
Committee“ (AJC) tätig, wo sie mit der Untersuchung des Antisemitismus
und anderer Vorurteile betraut wurde (ebd. 81). Eine
besonders produktive Kooperation bestand außerdem mit Robert K. Merton
(der an der Columbia University auch mit Paul F. Lazarsfeld
zusammenarbeitete), mit dem sie unter anderem die bedeutsame Studie
„Patterns of Social Life: human relations“ herausgab. Des Weiteren
brachte sie im Jahre 1954 die international zur Berühmtheit gelangte
Studie „The Authoritarian Personality“ heraus, schrieb mehrere Arbeiten
über die Folgen des McCarthyismus, führte diverse empirische Erhebungen
durch und war Erstautorin der Erstauflage eines der gängigsten
Lehrbücher der Methoden der Sozialforschung der fünfziger Jahre: der
„Research Methods in Social Relations, with Special Reference to
Prejudice“ (vgl. Fleck/Müller 1998: 266f).
1958 ging sie zurück nach
Großbritannien und heiratete den Labour-Abgeordneten Austen Albu. Sie
wurde zur Psychologieprofessorin am Brunel College of Advanced
Technology in Uxbridge ernannt und an der University of Sussex als
erste weibliche Professorin in der Geschichte der britischen
Sozialwissenschaften mit dem Aufbau einer sozialpsychologischen
Abteilung betraut. Zeit ihres
Lebens beschäftigte sie sich mit einer Vielzahl von
Thematiken, die innerhalb der Soziologie von zentraler Bedeutung
sind: ethnische Beziehungen, Antisemitismus, Vorurteile und
Rassenbeziehungen, Konformität und sozialer Wandel. In ihren Werken und
Studien untersuchte sie zudem Mechanismen des Lernens, Methoden der
Sozialforschung, psychische Gesundheit, Auswirkungen des technischen
Wandels und künstliche Intelligenz (vgl. Fryer 2013: 437). Ihr besonderer Forschungsstil,
den sie selbst als „nichtreduktionistische Sozialpsychologie“
(Fleck/Müller 1998: 260) beschreibt, ist durch die Kombination
verschiedener empirischer Methoden sowie durch die auf Lebensnähe
bedachte Wahl von Forschungsgegenständen charakterisiert. Vor dem
Hintergrund dieser lebensnahen Sozialpsychologie sind Tatbestände, so
Jahoda, immer im Kontext von und in direkter Betrachtung der sozialen
Gegenwart und nicht durch abstrakte Theorien zu behandeln (vgl. Jahoda
1994 zit. nach Engler; Hasenjürgen 1997: 101). Mit dieser Auffassung
von Sozialwissenschaften, die nicht beweisen, sondern entdecken will,
distanziert sie sich von der Tendenz der Psychologie zu experimenteller
Laborforschung und von den Neigungen der Soziologie zu abstrakter
Theoriebildung gleichermaßen (vgl. Fleck/Müller 1998: 260).
Die Vielfalt der bearbeiteten
gesellschaftsrelevanten Themen, die Menge der Publikationen sowie die
Zahl der wissenschaftlichen Kooperationen ließen sie zu einer der
führenden Sozialpsychologinnen der USA aufsteigen. Ihre Art der
Forschung, Problemstellungen vor dem Hintergrund verschiedener Methoden
und immer an den sozialen Brennpunkten in der realen Welt zu
analysieren, zeichnet sie als sozial und politisch engagierte Pionierin
der Sozialforschung aus. Am 28. April 2001 verstarb Marie Jahoda in ihrem Haus in Keymer.