Rudolf Goldscheid
(Pseudonym Rudolf Golm, 1870, Wien - 1931, ebenda)
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Soziologie - Wiener Soziologische Gesellschaft - Frauen - Anzengruber Verlag

rudolf goldscheid

Der Wiener Literat war unter anderem Soziologe, Philosoph, überzeugter Pazifist und war maßgeblich am Prozess der Entwicklung der österreichischen Soziologie beteiligt.


Rudolf Goldscheid wurde 1870 als sechstes und jüngstes Kind in eine großbürgerliche, assimilierte jüdische Familie im 1. Wiener Bezirk, im Haus am Salzgrieß 23 geboren (detaillierte biographischen Angaben sind unter anderem bei Jochen Fleischhacker 2000 und Wolfgang Fritz/Gertrude Mikl-Horke 2007 zu finden). Seine Eltern waren aus Galizien zugewandert, der Vater, Moses Hirsch Goldscheid, war im Handelsgewerbe beschäftigt, während die Mutter, Babette (geborene Reitzes) sich ausschließlich um die Erziehung der Kinder und um die Führung des Familienhaushaltes kümmerte. Der sensible, kleinwüchsige und, wie er sich selber nannte,  „psychisch relativ labil(e)“ (vgl. Fritz/Mikl-Horke, 22f.) Rudolf zeigte von Kindheit an Interesse an Literatur und an den freiheitlichen Ideen seiner Zeit, die er mit seiner Mutter teilte. Auch sein als streng geltender Onkel, der Bankier Sigmund Reitzes, war für die Entwicklung seiner Persönlichkeit prägend, auch wenn er dessen politische Einstellungen nicht teilte.

Nach einer soliden Schulausbildung verließ er 1891 im Alter von 21 Jahren Wien, um in Berlin zu studieren, wo er sich an der Königlichen Wilhelms-Universität zu Berlin für das Studium der Philosophie inskribieren ließ. Hier zählten bedeutsame Philosophen und Soziologen zu seinen Lehrern: der Finanzwissenschaftler Adolph Wagner, der Volkswirt Gustav Mohler sowie die Philosophen und Soziologen Georg Simmel und Wilhelm Dilthey. 1894 ließ sich er sich nach nur drei Jahren trotz erfolgreicher Beurteilung exmatrikulieren. Er blieb allerdings sein ganzes Leben ein Privatgelehrter, was ihm u.a. das familiäre Vermögen ermöglichte.
testament rudolf goldscheid
Vermutlich, so die gängige Meinung in der Fachliteratur, haben ihn seine literarischen Ambitionen dazu veranlasst, das Studium abzubrechen (vgl. Fleischhacker 2000: 4). Denn Goldscheid veröffentlichte bereits im Alter von 18 Jahren unter dem Pseudonym Rudolf Golm sein erstes literarisches Werk, ein Liebesdrama in drei Akten, das den Namen des britischen Dichters, Politikers und Freiheitskämpfers „Lord Byron“ trug. Es folgte bald ein zweites Stück mit dem Titel „Die Logik der Gesellschaft“, das allerdings nie aufgeführt wurde. 1894 erschien sein Roman „Das Einmaleins des Lebens“. Ein Jahr später sein bekanntester Roman
Der alte Adam und die neue Eva“, der auch in die englische Sprache übersetzt wurde. Sein letztes belletristisches Werk aus dem Jahr 1899 trägt den Titel „Bäume, die in den Himmel wachsen“.

1898 heiratete er in Leipzig trotz des starken Widerstands seiner Familie eine fünf Jahre jüngere, mittellose, nichtjüdische Frau namens Marie von Maltzahn (1875-1938). Bald nach der Eheschließung kehrte Goldscheid zurück nach Wien. Die Ehe blieb kinderlos. Fortan wandte er sich der Wissenschaft zu, publizierte zahlreiche Werke, gründete 1907 gemeinsam mit anderen die Wiener Soziologische Gesellschaft und war bis zu seinem Tode im Jahr 1931 politisch tätig. Ihm
wurde ein Grab gewidmet, das sich heute im Urnenhain (Abteilung 6, Ring 2, Gruppe 10, Nummer 123) der Feuerhalle Simmering, befindet.
Testament Rudolf Goldscheid, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Foto: Dana Volbeau

Intellektuelles Porträt und politische Aktivitäten. Das umfangreiche Lebenswerk Goldscheids

Das Spektrum der wissenschaftlichen Veröffentlichungen Rudolf Goldscheids reichte von Philosophie und Ethik über Nationalökonomie bis hin zur Soziologie. Doch nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch engagierte sich Goldscheid für eine bessere Gesellschaft. Die zwei Bereiche Wissenschaft und Politik ergänzen sich in einer symbiotischen Beziehung in seinem Lebenswerk. Diese rege Tätigkeit Goldscheids spiegelt sich in der Tatsache wider, dass er als Gründer beziehungsweise Mitglied in diversen sozial- und lebensreformerischen sowie wissenschaftlichen Vereinen agierte (1907: Gründung Wiener Soziologische Gesellschaft).

Goldscheids pazifistische Haltung, die im Laufe der Zeit stärker wurde, zeichnete sich schon seit 1910 ab, als er zum Mitglied der „Friedensgesellschaft“ wurde und somit in Verbindung mit der österreichischen Friedensnobelpreisträgerin, Schriftstellerin und Pazifistin Bertha von Suttner kam. Zu einer tiefen Freundschaft kam es auch mit dem Mitbegründer der deutschsprachigen Friedensbewegung, dem österreichischen Schriftsteller und Pazifisten Alfred Hermann Fried. Nach dessen Tod 1921 übernahm er die Redaktion der „Friedenswarte“, 1923 die Präsidentschaft der deutschen „Friedensgesellschaft“ (vgl. Neef 2007: 27).

1911 trat er dem „Deutschen Monistenbund“ bei, dessen Präsidentschaft er bis 1917 innehatte. Schon zwei Jahre davor, 1909, kam es zur Gründung des Österreichischen Monistenbundes. Die Mitglieder dieser freidenkerischen Organisation waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, die eine „auf Naturkenntnis gegründete[n], einheitliche[n] Welt- und Lebensanschauung“ beabsichtigten.

Von 1913 bis 1917 fungierte Goldscheid auf Einladung des deutschen Chemikers und Philosophen Wilhelm Ostwalds als Mitherausgeber der „Annalen der Naturphilosophie“. Doch die unterschiedlichen politischen Ansichten - während Goldscheid, nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs eine noch stärkere pazifistische Haltung einnahm, ergriff Ostwald die Partei der deutschen Seite – führten dazu, dass sich die Wege der zwei Gelehrten noch vor dem Kriegsende trennten (vgl. Stekeler-Weithofer; Schmidt 2009: 19).

1914 trat der aus einer großbürgerlichen Familie stammende Goldscheid der „Sozialdemokratischen Partei“ bei. Es blieb nach Neef ein Spezifikum der österreichischen Schule des Marxismus, des Austromarxismus, dass viele (zum großen Teil jüdische) Angehörige des Wiener Bildungsbürgertums mit der Sozialdemokratie sympathisieren (vgl. Neef 2007: 27). Nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges setzte Goldscheid seine pazifistischen Aktivitäten weiter fort. Seit 1923 von seiner Tätigkeit als Vorstand der „Deutschen Friedensgesellschaft“ beeinflusst, bemühte er sich darum, eine „österreichische Nationalsektion“ zu gründen, die auch offiziell am 16. März 1926 entstand (vgl. Bister 2002: 326). Aufgrund seiner vielen Verpflichtungen lehnte er die Wahl zum Ligapräsidenten ab, wurde aber als „Erster Vizepräsident“ gewählt; eine Position, die er bis zu seinem Tode im Jahre 1931 innehatte. Dass seine Bemühungen und seine Ideen sich auch als zukunftsweisend herausstellten, zeigt die Tatsache, dass er im selben Jahr in Brüssel einen Vortrag mit dem Titel „Für die Vereinigten Staaten von Europa“ abhielt. Er sprach sich in diesem Rahmen für ein Wirtschaftsbündnis zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland aus. Damit wäre Goldscheid als ein wichtiger Wegbereiter der heutigen Europäischen Union zu betrachten (vgl. Körner 1976, zit. nach Bister 2002: 327).

So vielfältig wie seine politischen Bestrebungen und Mitgliedschaften in Vereinen, waren auch sein Denken und seine wissenschaftlichen Interessen. Er war von unterschiedlichen intellektuellen Strömungen und gesellschaftlichen Diskursen geprägt; so hatte beispielsweise das Werk Auguste Comtes oder Karl Marx´ einen wesentlichen Einfluss auf Goldscheid. Die aus der Aufklärung hergeleitete Ethikauffassung traf auf die Evolutionstheorie und die neuere Entwicklung der Eugenik. Fritz und Mikl-Horke übernehmen im Rahmen ihrer Monographie zur Person Goldscheids die von Ferdinand Tönnies erstellte Einteilung des Werkes Goldscheids in drei Phasen: „Die erste ist markiert durch die ‚Ethik des Gesamtwillens‘, in dem Goldscheid für den Ausbau einer Ethik des Staates als Grunderfordernis seiner Zeit plädierte. Die zweite Phase bewegt sich um den Begriff der ‚Menschenökonomie‘ und um den Versuch der Grundlegung einer Sozialbiologie. Die dritte schließlich ist charakterisiert durch die finanzsoziologischen und finanzpolitischen Schriften“ (vgl. Fritz/Mikl-Horke 2007: 117).

Zu seinen wichtigen Werken gehören „Zur Ethik des Gesamtwillens“ (1902), „Höhere Entwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung der Sozialbiologie. Eine Programmschrift“ (1911), „Entwicklungstheorie,  Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie“ (1908). Beide sind in Leipzig im Julius Klinkhardt Verlag erschienen.  „Frauenfrage und Menschenökonomie“ ist 1924 in Wien im Anzengruber-Verlag der Brüder Suschitzky erschienen.

Ein zentraler Begriff im Schaffensprozess Goldscheids war jener der „Menschenökonomie“. Unter diesem Begriff verstand er „die Lehre vom organischen Kapital, von jenem Teil des Besitzes also, den die Bevölkerung selber darstellt.“ (vgl. Goldscheid 1911, zit. nach Fleischhacker 2007: 216). Für Goldscheid „bezog sich der Ressourcencharakter des Menschen jedoch auf deren Einsatz zur Entwicklung der biologisch-psychologischen und der intellektuell-kulturellen Potentiale der Menschheit als Selbstzweck. Für ihn war der Mensch zugleich wichtiges Mittel und letztlicher Zweck aller wirtschaftlicher Entwicklung.“ (Fritz, Mikl-Horke 2007: 219).

Die menschliche Höherentwicklung war das eigentliche Grundinteresse Goldscheids, und er sprach sich gegen die Vergeudung und Ausnutzung von 'Humankapital' aus. Er propagierte die Integration des organischen Kapitals in die Wirtschaftsabläufe, womit der Mensch und sein Wohl im Mittelpunkt stehen sollten: „Der Mensch war für ihn der eigentliche Wert, dem die Wirtschaft, aber auch die Wissenschaft zu dienen haben.“ (Fritz, Mikl-Horke 2007 bzw. ebd.: 220)

Neben geisteswissenschaftlichen Überlegungen orientierte sich der Gelehrte auch an den Naturwissenschaften (Die Evolutionstheorie Charles Darwins, das Entropieprinzip) und den damals neu entstandenen eugenischen Wissenschaften: „Goldscheid gelangte zur Einsicht, dass die energetischen Gesetze der Naturwissenschaften und der Physik durchaus auf die Erklärung der Entwicklungsrichtung, in der sich menschliche Gesellschaften bewegen, übertragen werden könnten. Mit seiner Hypothese befand er sich im Einklang mit der monistischen Bewegung und der von ihr verfochtenen einheitlichen Weltauffassung.“ (Fleischhacker 2000: 7) Unter Eugenik, dessen Gründer der englische Biologe Francis Galton war, verstand man die „staatlichen Förderungen der geistigen und wirtschaftlichen Bevölkerungselite zusammen, mit dem Ziel, frühe Eheschließung und steigende Geburtenzahlen gerade in dieser Bevölkerungsgruppe zu befördern“. (Fleischhacker 2007:  221) Doch die Kehrseite der positiven Eugenik war die negative Eugenik, welche die Beseitigung des „schlechten Erbgutes“ aus den Massen der Bevölkerung verfolgte, wie etwa durch Sterilisation und andere Maßnahmen. Die Eugenik wurde in unterschiedlicher Form und mit unterschiedlichen Zielen von verschiedenen weltanschaulichen und politischen Gruppen rezipiert, angefangen von linken Kreisen über katholisch-bürgerliche bis hin zu rechten Kreisen. Goldscheid, der sich klar gegenüber der negativen Eugenik abgrenzte,  propagierte im Rahmen seiner „Höhenentwicklung und Menschenökonomie“ konkrete Maßnahmen, die deutliche Bezüge zur Reformeugenik aufwiesen (vgl. Kevles 1986, zit. nach Fleischhacker 2007: 221). Doch Goldscheid „suchte nicht die biologischen Ursachen sozialen Verhaltens zu erklären und lehnte die direkte Übertragung des Darwinismus auf die Gesellschaft, wie sie von Spencer bis van der Berghe vorgenommen wird, ab. Vielmehr formulierte er die Evolutionstheorie so um, dass die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Gestaltung und Umformung der Umwelt- und Lebensbedingungen und durch sie die aktive Selbsterschaffung des Menschen sowohl im psychisch-organischen als auch im geistig-moralischen Sinn betont wurde (Mikl-Horke 2007: 217).

Von zentraler Bedeutung, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erlangen, war nach Goldscheid die damals junge Wissenschaft der Soziologie. Er hatte eine naturalistisch-teleologische Auffassung von Sozialwissenschaft, an deren Spitze die Soziologie als zusammenfassende und vereinheitlichende Oberwissenschaft stand: „Er deutete Soziologie als die Lehre von sämtlichen Triebkräften, die das gesellschaftliche Leben bestimmen. Hierbei verstand er das gesellschaftliche Leben als einen organischen Prozess unter Einschluss der biologischen Erforschung der gesellschaftlichen Phänomene.“ (vgl. Goldscheid 1911, zit. nach: Fleischhacker 2000: 7) Im Rahmen seiner intensiven Beschäftigung mit den Finanzwissenschaften spielte er später eine maßgebliche Rolle bei der Etablierung der Finanzsoziologie als soziologische Zweigdisziplin.
Seine „sozialtechnologisch orientierte Form“ der Soziologie fand dem Zeitgeist entsprechend viele Unterstützerinnen und Unterstützer. Dem gegenüber sammelten sich rund um Max Weber Gelehrte, die vorrangig methodische Fragen diskutierten und sich für eine „objektive“, politikfreie Wissenschaft einsetzten. Die gegensätzlichen Positionen blieben in der Geschichte der Soziologie als der Werturteilstreit in Erinnerung. 


Rezeption und gegenwärtige Relevanz Goldscheids
Obwohl Rudolf Goldscheids Lebenswerk eine wichtige Rolle bei der Etablierung der Soziologie in Österreich spielte, wurde er in der wissenschaftlichen Landschaft nur am Rande erwähnt. Diese marginale Position hat mehrere Gründe: zu einem blieb Goldscheid sein ganzes Leben Privatgelehrter, dem ein offizieller akademischer Werdegang verwehrt blieb. Zum anderen stand Goldscheid als Vertreter eines außeruniversitären Milieus einer lebensreformerischen Soziologieauffassung näher als einem klassischen Kanon aus dem universitären Umfeld.

Literatur